Die letzten Tage von Leibis 1994
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 Published On Feb 26, 2020

Die letzten Tage von Leibis 1994
Mit der Flutung der neuen Talsperre Lichte / Leibis wurde im Februar 2005 begonnen
U.a. schreibt taz. die tageszeitung am 18. 11. 1994
Die Letzten lassen das Licht an

Eine Landschaft verschwindet, ein Dorf stirbt, die Menschen sind schon weg. Im Thüringer Wald wird die größte Talsperre Mitteleuropas gebaut, obwohl der Wasserverbrauch gesunken ist  ■ Aus Leibis Thorsten Schmitz
Dort, wo der Thüringer Wald den größten Faltenwurf aufweist, steht das Geisterdorf Leibis. Sein Name, 1465 erstmals urkundlich erwähnt, wurde inzwischen von allen Landkarten gestrichen. Seit zwei Jahren ist Leibis Sperrgebiet. Das Lichtetal war das schönste Tal Thüringens, sagen die Menschen mit verzücktem Blick ins Unendliche. Eine Landschaft, so groß wie 177 Fußballfelder, verschwindet.
Zur Jahrtausendwende wird eine hundert Meter hohe Stahlbetonwand, die größte Europas, 44 Millionen Kubikmeter Lichtewasser zusammenstauen. Diesem gigantischen Kunstsee steht Leibis im Weg. Schon 1979 erfuhren die 104 Dorfbewohner, daß ihr Tal eines fernen Tages geflutet würde. So recht mochte niemand daran glauben. Und an Widerstand glaubten die Leibiser schon gar nicht.
Der Trinkwassersee, in dem niemand baden darf, wird 750 Millionen Mark kosten – einschließlich der „Sitzkrücken“ für Greifvögel als Ersatz für Tausende gefällter Fichten. Laut Einigungsvertrag sind einmal begonnene Bauwerke zu vollenden. 750 Millionen Mark und die Zerstörung einer Landschaft, obwohl der Wasserverbrauch nach Auskunft des Umweltministeriums in Thüringen stetig zurückgeht. Obwohl das kleine Bundesland zum industriellen Notstandsgebiet herabgewirtschaftet ist, in dem weiterhin alle zwei Wochen ein großes Unternehmen dichtmacht. Obwohl bereits 172 Thüringer Bäche in Talsperren gestaut werden.
Aber „es wäre doch ein Wahnsinn, das Projekt zu stoppen, nachdem nun schon soviel Geld ausgegeben worden ist“, findet Heiko Kraft, Bauleiter der Talsperre Leibis-Lichte. Die Landesregierungen von Sachsen und Sachsen-Anhalt, die zunächst am Talsperrenbau beteiligt waren, sehen das anders. Sie sprangen 1991 wegen des auch in ihren Ländern sinkenden Wasserverbrauchs ab.
Leibis stirbt langsam. Nachts wüten Jugendliche aus der Gegend in den schiefergedeckten und eigentlich denkmalgeschützten Häusern rum. Sie legen Feuer, schmeißen Fensterscheiben ein und reißen Bushaltestellen aus ihrem Fundament. Tagsüber kommen Männer in mutig gemusterten Freizeitanzügen in das Freiluft- Museum und betätigen sich als Chronisten. Mit zugekniffenem Auge und einer Sonderangebots- Videokamera suchen sie die Zeit festzuhalten. Und mitunter entdecken sie durchs Objektiv ein Schnäppchen. „Guck mal“, ruft ein Hobbyfilmer aus der Nebengemeinde Unterweißbach seinem angeödeten Sohn zu: „Russische Kieferbretter!“ Gesehen, verstaut. Im hellblauen Trabi rauschen die beiden davon.
Einmal aber hat die Dorfgemeinschaft noch funktioniert. Als 102 Leibiser ihre Koffer packten und den drei Kilometer entfernten Neu-Leibis-Hügel erklommen, zogen zwei Leibiser nicht mit. Und das war Absicht. Gerhard Lotze, 61, und Jürgen Zerlitzki, 26, hätten im sauberen Neu-Leibis nur gestört, war des Dorfes Ansicht. Die beiden trinken gerne und reden ungeschminkt. 102 Leibiser mögen das nicht. Deshalb hielten sie alle noch einmal zusammen und konnten die Talsperrenverwaltung davon überzeugen, daß Lotze und Zerlitzki besser nicht am kollektiven Umzug teilnehmen.
Den beiden ungleichen Männern wurde daraufhin eine drittklassige Mietwohnung in Unterweißbach zugewiesen. Aber dorthin wollten sie nicht. Und so wohnen die „Asozialen“ – so die Neu- Leibiser über die letzten Alt-Leibiser – noch immer im alten Dorf. Längst ohne Strom und ohne Wasser. Für die beiden die Versorgung aufrechtzuerhalten würde sich nicht lohnen, rechnet die Talsperrenverwaltung vor. Und außerdem will sie sie ja loswerden. „Gewaltlos“, sagt Heiko Kraft.
Die Dissidenten des alten Leibis aber wollen bleiben, solange es geht. Lotze und Zerlitzki essen Kartoffeln aus Vorgärten und Holunderbeersuppe. Einmal im Monat fahren sie auf ihren klapprigen Rädern zum Arbeitsamt nach Neuhaus, Unterstützung abholen. Einen guten Teil davon lassen sie in den Kneipen Unterweißbachs. Weil es dort warm ist.
Nachts radeln sie dann die kurvenreiche Straße nach Leibis zurück. Und wenn die Neu-Leibiser bereits unter ihren Daunen liegen, flackern bei Gerhard Lotze und Jürgen Zerlitzki noch die Kerzen. „Damit die Vandalen wissen“, sagt Lotze, „daß da noch wer wohnt.“

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