Der werfe den ersten Stein
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 Published On Sep 2, 2023

„Der werfe den ersten Stein“ ist eine Installation des Münchner Künstlers Wolfgang Keller aus dem Jahr 1998, ein Mahnmal der Selbstbegegnung: Es erinnert an das verdrängte Unbewusste in uns, an unsere Schatten, die es möglich machen, mit dem Finger auf andere zu zeigen, uns selbst aus dem Spiel zu nehmen und jede Verantwortung und Mitschuld zu leugnen. 


…DER WERFE DEN ERSTEN STEIN

Kinder zeichnen solche Häuser, gradlinig, rechteckig, darüber ein Dach mit einem spitzen Giebel. Das Haus ist aus Glas und reflektiert so sehr, dass man sich in allen Wänden spiegelt und fast das Foto übersieht, das in einem Holzverschlag außerhalb des Hauses hängt. Es ist ein Staatsporträt Hitlers, fast vier Quadratmeter groß, das für die Olympischen Spiele in Berlin gemalt wurde. Der Mann wirkt entschlossen, genauer gesagt: er beißt die Zähne zusammen, noch genauer: das Grauen steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Adolf Hitler ist in unserem kollektiven Gedächtnis als eine feste Größe gespeichert, als Verrückter, Verbrecher, als das personifizierte Böse. In unserem fotografischen als einer mit viel Volk um sich, Hofschranzen, Kindern, wenigstens einem Hund. Als Alleingelassener, als unser stummes Gegenüber aber nicht. Dass wir plötzlich vor ihm stehen und uns in ihm spiegeln, ist eine Zumutung. 

Warum Hitler und warum auf diese Weise? Warum nicht so, wie wir es gewöhnt sind, aus dem Fernsehen, wo das Zeitgeschichtsspektakel "Hitlers Helfer“ lief, lärmend, knarrend wie einst Fox’ Tönende Wochenschau? So hat man es uns wieder und wieder serviert und wir haben es geschluckt, verdaut, vergessen. 

"Einst brachten die Schriftgelehrten eine Frau zu ihm, die beim Ehebruch ertappt worden war, und sagten: Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.“ 

Die Geschichte aus dem Johannes-Evangelium hat dem Glashaus seinen Namen gegeben, ein Gleichnis, ein Bild menschlicher Größe und moralischer Souveränität. Die innere Konsequenz dieser Bilder, die Konfrontation mit einem Menschen, der sich auf keinen Kompromiß, kein Geschäft mit dem Leben einließ, sondern von einem anderen, höheren sprach, ging seinen Zeitgenossen schließlich derart nahe, dass sie ihn nicht mehr ertrugen. 

Eugen Drewermann schreibt: "Die meisten großen Gleichnisse Jesu beginnen bei den gewöhnlichen Vorstellungen derer, zu denen er spricht, und hört man genau hin, besteht die ganze Lehre darin, eben diese Vorstellungen zu vergessen. Am Ende gibt es womöglich kein Gut und Böse, Unkraut und Zierstrauch. Am Ende gibt es nur ein einziges großes, gottgewolltes Leben, das darauf wartet, die Brücke zu finden zur Unendlichkeit.“ 

Das Neue Testament ist voll von solchen Geschichten, und immer geht es um alles oder nichts, um Leben und Tod, immer zieht es den Zuhörern den Boden unter den Füßen weg. Nicht Gut und Böse? Hitler einer von uns? Nein, viel schlimmer noch: Hitler in uns - die Lücke, die Leerstelle, der blinde Fleck unserer Selbsterkenntnis. Er steht für das, was wir nicht sehen, woran wir uns nicht erinnern wollen, nie mehr. 

Wer ohne Sünde ist, das heißt, wer nie unsicher war im Leben, eng und ungerecht, verwirrt, verletzt, verletzend,; wer sich nie zwischen Angst und Hoffnung, Nach-Denken und Vor-Sorgen verkauft, verleugnet und verloren hat; wer dermaßen radikal in sich gegangen ist und nichts gefunden hat, der mag den ersten Stein werfen. Aber vorher komme er noch einmal zu mir und sehe mir in die Augen. Oder besser noch: dem geringsten seiner Brüder.

Stellen wir uns vor, wir tragen den blinden Hitler-Fleck, diese mit tausend Ausreden und Ablenkungen gefüllte Leere unserer Existenz in dieses Haus hinein und dort kommt es zur Kollision, zum größten anzunehmenden Unfall für unser Selbstverständnis. In diesem jähen Augenblick könnten wir ihn wahrnehmen: den Riß, die Wucherung, die Wunde, die Illusion, die den Blick verstellt und die Wahrheit verdunkelt - was für ein Schock, aber auch welche Chance, unser Haus neu zu bestellen, jetzt, hier, aus der tiefsten Einsicht, dem größten Schweigen, dem Innehalten und Standhalten heraus. 

Das Volk sah, dass der Kaiser keine Kleider trug, aber nur ein Kind wagte es zu sagen. Eine Zuhörerin der Podiumsdiskussion in München erzählte, wie der Führer sie als kleines Mädchen auf den Arm nahm und sie sich abwandte, weil er einen solchen Mundgeruch hatte. Der Mann stinkt, hätte das Kind im Märchen gesagt, und plötzlich hätten es alle gewusst: der Kaiser riecht und ist genauso nackt und bloß und bedürftig ist wir alle. Das Volk wäre aufgewacht aus seinem tausendjährigen Traum und wäre ernüchtert nach Hause gegangen. Hat es aber nicht getan, sondern stand am Ende wie betäubt vor der Wahrheit, vor dem Spiegel, vor dem Abgrund, in den uns das Märchen schauen läßt und das Glashaus auch. 

Franz Deubzer

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